Verbündete im Geiste: Die Reformation in Zürich und St. Gallen
- zuericitytours
- 21. Juni
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Aktualisiert: 30. Sept.
Zürich und St. Gallen gehören zu den bedeutendsten reformierten Städten der Schweiz. Ihre Geschichte ist nicht nur religiös, sondern auch kulturell und intellektuell eng miteinander verflochten. Besonders in der Zeit der Reformation traten beide als Träger eines neuen, bibelorientierten Christentums hervor. Diese Verbindung reicht jedoch noch tiefer – zurück bis ins Frühmittelalter, als Bildung, Reformwille und Glauben schon einmal Hand in Hand gingen.
Frühmittelalterliche Wurzeln: Die karolingische Reformbewegung
Im 9. Jahrhundert, zur Zeit Karls des Grossen, erlebte Europa eine erste umfassende Kirchenreform. Die sogenannte karolingische Reformbewegung hatte zum Ziel, die kirchliche Bildung zu verbessern, die Liturgie zu vereinheitlichen und das geistliche Leben zu erneuern. Klöster wurden zu Bildungszentren, in denen Lesen, Schreiben und Theologie gelehrt wurden.
Das Kloster St. Gallen wurde in dieser Zeit zu einem der wichtigsten geistigen Mittelpunkte Europas. Berühmte Gelehrte wie Notker Balbulus wirkten hier. Es entstand ein kulturelles Netzwerk von Mönchen, die auch mit anderen kirchlichen Zentren wie dem frühmittelalterlichen Zürich in Verbindung standen. In Zürich war das Grossmünsterstift Teil dieser Entwicklung und wurde ebenfalls durch die Reformimpulse der Karolinger geprägt.
Diese Bildungs- und Reformkultur legte den Grundstein für das spätere reformatorische Denken: Wissen, Sprache und Schrift wurden als Mittel zur Erneuerung des Glaubens verstanden.
Die Reformation: Zwingli und Vadian
Im 16. Jahrhundert erfasste die Reformation die Schweiz. In Zürich wirkte ab 1519 Huldrych Zwingli, der die Kirche grundlegend reformieren wollte. Er stellte die Bibel ins Zentrum der Predigt, lehnte die Papstkirche ab und führte neue Gottesdienstformen ein. Schon bald entwickelte sich Zürich zum geistigen Zentrum der Reformation in der deutschsprachigen Schweiz.
Zur selben Zeit war in St. Gallen Joachim Vadian aktiv. Er war Humanist, Arzt, Historiker und später auch Bürgermeister. Vadian kannte Zwingli aus gemeinsamen Studienjahren in Wien. 1528 setzte er die Reformation in St. Gallen durch, angelehnt an das Zürcher Modell. Zwischen beiden Männern bestand ein enger geistiger Austausch.

Zwingli-Denkmal – Zürich
Das Zwingli-Denkmal gehört zu den bekanntesten Statuen Zürichs. Nicht, weil sich alle mit den Ideen des Reformators von 1519 auseinandersetzen, sondern weil die Bronzefigur seit 1885 am Limmatquai vor der Wasserkirche steht – 3,9 Meter hoch, mit Schwert und Bibel in den Händen. Unübersehbar und markant, ein Ort, der sowohl Touristinnen wie Einheimische anzieht, sei es für ein Foto, als Treffpunkt oder einfach auf dem Weg ins Niederdorf.
Bei der Einweihung am 14. Juli 1885 war das Denkmal noch ein ernstes Monument für Zürichs «eigenen» Reformator. Heute ist es längst auch ein Symbol im Stadtbild: es vermittelt zwischen Bibel und Schwert, zwischen religiöser Reform und dem ganz alltäglichen Zürich am Fluss.
Vadian-Denkmal – St. Gallen
Das Vadian-Denkmal hat unter den Schweizer Denkmälern eine besondere Stellung. In St. Gallen kennt fast jede und jeder den Namen – weniger wegen Joachim Vadian selbst, sondern weil die Statue mitten auf dem Marktplatz steht, stolze 3,75 Meter hoch, und einen Sockel bietet, der sich perfekt als Treffpunkt eignet. Ob für Demos, Sonnenhungrige oder Nachtschwärmer – hier kommt man zusammen.
Als das Denkmal am 7. Juli 1904 eingeweiht wurde, war die Stimmung allerdings noch eine ganz andere: Offizielle Vertreter der katholischen Kirche blieben fern, von Vielfalt keine Spur. Heute ist es längst ein lebendiger Ort im Stadtbild – und Vadian schaut still von oben zu.
Die Prophezey in Zürich
Ein zentrales reformatorisches Projekt Zwinglis war die Prophezey – eine Bibelschule am Grossmünster, in der täglich gemeinsam die Heilige Schrift gelesen und ausgelegt wurde. Sie diente der Ausbildung reformierter Prediger und war Ausdruck eines neuen Bildungs- und Kirchenverständnisses. Die Prophezey griff die Ideen der karolingischen Bildungsreform wieder auf, jedoch nun unter reformatorischen Vorzeichen: freie, vernunftgeleitete Bibelauslegung statt kirchlicher Autorität.
Die Rolle des Druckwesens
Ein entscheidender Faktor für die Verbreitung der Reformation war das Druckwesen. In Zürich spielte dabei vor allem Christoph Froschauer eine zentrale Rolle. Er war der bedeutendste Drucker der Stadt und ein enger Vertrauter Zwinglis.
Froschauer verlegte zahllose Predigten, Flugschriften, theologische Abhandlungen und Bibelübersetzungen – darunter auch die "Zürcher Bibel" (ab 1525), eine der ersten vollständigen deutschsprachigen Bibeln. Seine Druckerei wurde zum Motor der Reformation in der Eidgenossenschaft. Auch das berühmte "Wurstessen von 1522", das den Bruch mit dem Fastengebot markierte, fand in seinem Haus statt.
In St. Gallen war die Drucktätigkeit ebenfalls rege, wenn auch nicht so zentralisiert wie in Zürich. Einer der bekanntesten Drucker war Leonhard Straub, der unter anderem Schriften von Vadian veröffentlichte. Auch Johannes Kessler, ein Vadian-Vertrauter und Chronist, veröffentlichte seine "Sabbata" mit Hilfe lokaler Drucker. Diese Werke verbreiteten die reformatorischen Ideen in der Ostschweiz und dokumentierten zugleich die Entwicklungen der Zeit.
Vadian und die Täufer
Ein oft übersehener, aber äusserst spannender Aspekt ist die familiäre Verbindung zwischen dem Reformator Vadian und der frühen Täuferbewegung: Joachim Vadian war mit Martha Grebel verheiratet, der Schwester von Konrad Grebel – einem der führenden Köpfe der Täufer in Zürich.
Konrad Grebel hatte sich zunächst im Umfeld Zwinglis engagiert, wandte sich aber bald gegen ihn, weil ihm die Zürcher Reformation nicht weit genug ging. 1525 war er massgeblich an der Einführung der Erwachsenentaufe beteiligt, was zur Gründung der radikalen Täuferbewegung führte. Während Grebel die Trennung von Kirche und Staat forderte, trat Vadian für eine geordnete, städtisch gestützte Reformation ein.
Diese Verbindung macht deutlich: Die Reformation war kein einheitliches Projekt. Selbst innerhalb ein und derselben Familie konnten sich die theologischen Wege tiefgreifend unterscheiden. Die Ehe zwischen Vadian und Martha Grebel steht symbolisch für die Spannungen und Übergänge zwischen den moderaten Reformierten und den radikalen Täufern.
Der Streit um den St. Galler Globus
Ein bemerkenswertes Objekt, das die Verbindung zwischen den beiden Städten symbolisiert, ist der sogenannte St. Galler Globus. Ursprünglich in der Stiftsbibliothek St. Gallen um 1576 entstanden, wurde er im Zweiten Villmergerkrieg (1712) von Zürcher Truppen als Kriegsbeute nach Zürich gebracht.
Über 280 Jahre später, in den 1990er Jahren, forderte St. Gallen die Rückgabe. Nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich 2006 auf einen Kompromiss: Das Original bleibt in Zürich, dafür erhielt die Stiftsbibliothek St. Gallen eine originalgetreue Replik – ein Symbol für die Anerkennung des historischen Erbes beider Städte.
Verbindungen zwischen Zürich und St. Gallen im Überblick
Zeitleiste der wichtigsten Ereignisse
ca. 800–850: Kloster St. Gallen als Zentrum der karolingischen Reformen
ca. 1484: Geburt von Zwingli (Wildhaus) und Vadian (St. Gallen)
ca. 1500–1515: Studienzeit Zwingli und Vadian in Wien
1519: Zwingli beginnt am Grossmünster in Zürich zu predigen
1522: "Wurstessen" bei Froschauer – Auftakt der Zürcher Reformation
1525: Gründung der Täuferbewegung durch Grebel, erste Erwachsenentaufe
1528: Reformation in St. Gallen unter Vadian
ca. 1531: Tod Zwinglis in der Schlacht bei Kappel
1576: Herstellung des St. Galler Globus
1712: Zweiter Villmergerkrieg, Globus wird nach Zürich gebracht
2006: Vergleich: Replik des Globus für St. Gallen, Original bleibt in Zürich
Fazit: Zwei reformierte Partner
Zürich und St. Gallen waren im 16. Jahrhundert mehr als nur geographische Nachbarn. Sie waren Partner im Geiste. Die Reformation war in beiden Städten nicht nur ein kirchlicher Umbruch, sondern Ausdruck eines neuen Weltverständnisses: Bildung, Gewissensfreiheit, Bibeltreue und Vernunft standen im Mittelpunkt.
Die frühmittelalterlichen Reformen, der gemeinsame Bildungsweg von Zwingli und Vadian, die Prophezey, das Druckwesen, die familiären Verbindungen zur Täuferbewegung und sogar der Streit um den Globus zeigen: Reformation ist nicht nur Theologie – sie ist Kultur, Politik und Identität.









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