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Locarno, Ascona und Lugano im Sog der Reformation – Die vergessenen Wurzeln des Protestantismus im Tessin

Die Reformation jenseits der Alpen


Wenn von der Reformation in der Schweiz die Rede ist, denkt man zuerst an Zürich mit Huldrych Zwingli oder an Genf mit Johannes Calvin. Weniger bekannt ist hingegen, dass sich auch im heutigen Kanton Tessin im 16. Jahrhundert reformatorische Bewegungen entwickelten – trotz massiver Gegenwehr durch die katholischen Orte der Eidgenossenschaft. Besonders Locarno spielte hierbei eine zentrale Rolle. In seinem Windschatten traten auch Ascona, Lugano und teilweise Bellinzona in Berührung mit dem Gedankengut der Zürcher Reformation. Ein Blick auf die Verflechtung mit der Lombardei – insbesondere Mailand – zeigt zudem, wie durchlässig die kulturellen und religiösen Grenzen jener Zeit waren.


Locarno – Zentrum des Tessiner Protestantismus und symbolischer Schauplatz konfessioneller Konflikte

Locarno war im 16. Jahrhundert eine bedeutende Kleinstadt in den sogenannten Ennetbirgischen Vogteien, einem Gebiet unter der gemeinsamen Herrschaft der zwölf alten Orte der Eidgenossenschaft. Während rotierende Landvögte wechselten, blieben lokale Eliten wie der Landschreiber dauerhaft im Amt und sicherten die Vermittlung zwischen den Interessen der Eidgenossen und der einheimischen Bevölkerung.


Kirche und ehemaliges Kloster San Francesco in Locarno.
Kirche und ehemaliges Kloster San Francesco in Locarno. Wikimedia

Die Reformation Zwinglis zeigte in Locarno zunächst wenig Wirkung. Erst ab etwa 1535, unter dem Einfluss des Schulmeisters und späteren Reformators Giovanni Beccaria, entstanden erste reformatorische Impulse. Beccaria war ein begnadeter Redner und Pädagoge mit Mailänder Wurzeln, der trotz anfänglicher Vorsicht bald offen die Lehren der Rechtfertigung allein durch den Glauben predigte.


Ab 1542 verstärkten sich die Aktivitäten: Neben Beccaria traten Prediger wie Benedetto Locarno und Cornelio di Sicilia öffentlich auf. Bald bildete sich eine aktive reformierte Gemeinde. Unterstützung kam u. a. vom protestantischen Landvogt Joachim Bäldi und vom Zürcher Theologen Konrad Pelikan, mit dem Beccaria ab 1544 in regem Austausch stand.

Doch die Gegenbewegung blieb nicht aus: Der katholische Landschreiber Walter Roll betrieb systematisch die Verdrängung der reformierten Bewegung. Die Spannungen kulminierten 1549 in einer öffentlichen Disputation. Beccaria wurde verhaftet, später verbannt, und floh nach Mesocco im bündnerischen Val Mesolcina.


In Locarno übernahm nun Taddeo Duno, ein Schüler Beccarias, die Leitung der reformierten Gemeinde. Trotz publizierten Glaubensbekenntnisses (1551) und der temporären Unterstützung durch protestantische Landvögte, wuchs der Druck durch die katholischen Orte.


Erster Brief von Taddeo Duno an Heinrich Bullinger vom 9. August 1549.
Erster Brief von Taddeo Duno an Heinrich Bullinger vom 9. August 1549. Bullinger digital / Staatsarchiv Zürich

Die Eidgenössische Tagsatzung beschloss 1554 in Baden, dass alle Protestanten in Locarno entweder konvertieren oder bis zum 3. März 1555 auswandern müssten.


Am festgelegten Datum verliessen rund 100 Personen Locarno Richtung Zürich. Heinrich Bullinger traf die Flüchtlinge persönlich und setzte sich für sie ein. Ihm ist es zu verdanken, dass die bedrängten Locarneser in der Zürcher St. Peterskirche ihre Gottesdienste auf Italienisch endlich frei abhalten konnten.



Der Auszug der protestantischen Familien im Jahr 1555 aus Locarno, dargestellt mit ihren Familienwappen.
Der Auszug der protestantischen Familien im Jahr 1555 aus Locarno, dargestellt mit ihren Familienwappen. Archiv der Familie von Muralt in Zürich

Die meisten Zürcherinnen und Zürcher begegneten den Flüchtlingen aus Locarno jedoch mit Argwohn und Misstrauen. Historische Quellen belegen, dass vor allem die Zünfte befürchteten, die Zugezogenen würden ihren Status als Flüchtlinge nutzen, um sich wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Einige Locarneserinnen und Locarneser zogen später nach Basel, Graubünden und ins Veltlin, um neue wirtschaftliche Möglichkeiten zu verfolgen. Andere blieben in Zürich, wo sie trotz sozialer und religiöser Spannungen erfolgreiche Unternehmen aufbauten.


Sie nutzten ihre italienische Muttersprache und schufen Netzwerke mit anderen Emigrierten, die ihren Glauben und ihre Geschäftsinteressen teilten. Mit der Zeit erhielten die Familien Duno, Muralto, Orelli und Pestalozzi das Bürgerrecht. Sie spielten fortan eine wichtige Rolle in der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Entwicklung Zürichs. Die Buchhandlung Orell Füssli etwa geht auf die Druckerei von Christoph Froschauer zurück, an der die Familie Orelli beteiligt war.


Ascona – Heimlicher Umschlagplatz für reformatorisches Gedankengut

Ascona, unweit von Locarno, entwickelte sich im 16. Jahrhundert zu einem wichtigen Transitort für die Verbreitung evangelischer Schriften. Die Nähe zu Mailand, die Seeanbindung und der rege Handel begünstigten den Schmuggel reformatorischer Literatur. Besonders das Kloster San Michele geriet unter Verdacht, Treffpunkt für heimliche Lesekreise gewesen zu sein. Noch heute erinnert ein Gedenkstein im Hotel "Castello del Sole" an diese Zeit.


Zwar bildete sich keine öffentliche reformierte Gemeinde, doch die Aktivitäten blieben den katholischen Behörden nicht verborgen. Die Inquisition griff ein, konfiszierte Bücher und ermittelte gegen verdächtige Einwohner.


Lugano – Reformatorischer Druckort auf Zeit

Lugano war kein Zentrum reformierter Predigt, wohl aber ein Druckort von grosser Bedeutung. Der Drucker Giovanni Luigi Pasini verlegte ab 1544 zahlreiche italienischsprachige reformatorische Werke – unter anderem von Bernardino Ochino und Pietro Paolo Vergerio, beide bedeutende italienische Exilanten der Reformation.

Die Druckerei wurde 1549 durch Druck der katholischen Orte geschlossen. Pasini musste fliehen, das kurze reformatorische Kapitel Luganese endete abrupt. Doch die in Lugano gedruckten Werke kursierten weiterhin im Tessin und in Norditalien.


Bellinzona – Politisches Zentrum, religiös vorsichtig

Bellinzona war das politische Verwaltungszentrum der Ennetbirgischen Vogteien. Obwohl es keine belegbare reformierte Gemeinde gab, war die Stadt ein Durchgangspunkt für Ideen, Personen und Bücher. Reisende, Händler und Diplomaten brachten reformatorische Inhalte aus der Deutschschweiz. Die Nähe zu den Bündner Pässen und die Verbindung zur Lombardei machten Bellinzona zu einem Ort latenter, aber kaum sichtbarer reformatorischer Einflüsse.


Mailand, Norditalien und die "Spirituali"

Die reformatorische Bewegung im Tessin war eng mit Norditalien verknüpft. In Mailand und Umgebung entstand um 1540 eine Gruppe sogenannter "Spirituali" – katholische Humanisten, die reformatorische Gedanken teilten. Namen wie Pietro Carnesecchi oder Giulia Gonzaga prägten diese Szene. Viele von ihnen flohen unter dem Druck der Inquisition in die Schweiz oder nutzten das Tessin als Fluchtkorridor.

Zürich, Basel und Graubünden wurden zu Zufluchtsorten für diese Exilanten. Die italienische Reformation blieb zwar letztlich Episode, doch der kulturelle Austausch mit dem Tessin hinterliess bleibende Spuren.


Nachwirkungen und Wiedergeburt des Protestantismus im Tessin

Nach Jahrhunderten katholischer Dominanz wurde im Zuge der Bundesverfassung von 1848 die Religionsfreiheit eingeführt. Dies ermöglichte die Neugründung evangelisch-reformierter Kirchgemeinden:


  • Locarno und Umgebung: 1889 formelle Gründung (nach inoffiziellen Aktivitäten bereits seit den 1870ern)

  • CERT (Chiesa evangelica riformata nel Ticino): 1976 als eigenständige Kantonalkirche anerkannt

  • Drei Regionen: Locarno, Bellinzona und Sottoceneri


Die Gemeinden finanzieren sich bis heute nicht über Kirchensteuern, sondern durch freiwillige Beiträge und Spenden. Sie leisten wertvolle Arbeit in Seelsorge, Flüchtlingshilfe, sozialen Diensten und Tourismusbegleitung.


Fazit: Das Tessin – Grenzland der Reformation

Die reformatorische Bewegung in Locarno war ein mutiger Versuch, evangelischen Glauben inmitten katholischer Dominanz zu leben. Trotz ihrer Vertreibung hinterliessen die Locarneser Protestanten ein reiches geistliches und kulturelles Erbe – in Zürich, in der reformierten Druckkultur, und im kollektiven Gedächtnis der Eidgenossenschaft. Orte wie Ascona und Lugano waren Knotenpunkte einer "versteckten Reformation" – ihre Rolle als Brücke zwischen Zürich und Mailand verdient bis heute mehr Beachtung.


Quellen: Staatsarchiv Zürich, Archiv der italienischen evangelischen Kirche Zürich, historische Druckverzeichnisse, Landesmuseum Zürich, Beiträge von James Blake Wiener (Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Dozent und PR-Spezialist), Regula Stern, Giuseppe Gangale, Giovanni Miegge, Reformationsgeschichte von Fritz Blanke.

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